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Mein Vater und ich

Mein Vater und ich

Geschichte will nicht nur erinnert, sondern muss vor allem auch verstanden werden, soll sie sich nicht wiederholen. Ich muss meinen Vater verstehen, will ich nicht denselben Mustern folgen und letztlich mich auf die gleiche Art und Weise verhalten wie er. Denn die Ursache für sein grausiges Tun war seine Interpretation des Zeitgeschehens auf der Basis seines Verständnisses vom Leben, der Gesellschaft und sich selbst, also seines Weltbildes.

Die Zeiten heute sind zwar andere als 1933, aber wenn meine innere Haltung die gleiche wie seine ist, dann kann ich nie von mir behaupten, ich sei davor gefeit, das Gleiche beziehungsweise Ähnliches zu machen wie er. Wenn ähnlich dramatische Zeiten aufziehen, wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten würde, denn ich weiß ja nie, ob ich mich so verhalte, wie ich es bewusst denke.

Das weiß ich zwar nie, aber ich kann für die eine oder andere Wahrscheinlichkeit sorgen, indem ich mein Verhalten konsequent reflektiere. Es geht um sein und mein mentales Weltbild und Weltverständnis.

Ein Weltbild, dass sich in seinem Sein widerspiegelte – und das er an mich als seinen Sohn weitergegeben hat. Wenn ich sein Weltbild nicht verstehe, sondern nur ablehne, kann ich nicht erkennen, was ich davon selbst lebe und weitergebe.

Also suche ich zu verstehen, was ihn bewegt hat – und was er mir unbewusst vermittelt hat. Es ist ja nicht das Offensichtliche, was das Tun eines Menschen bedingt, sondern das Nichtbewusste. Das Böse, das in seinem Tun sichtbar wurde, entstand durch das Nichtsichbare, Nichtbewusste. Das war der Boden, auf dem die Saat des Nationalsozialismus gedeihen konnte.

Im Nürnberger Ärzteprozess mit dem Hauptangeklagten Karl Brandt (Chef meines Vaters) sagte der Chefankläger, Brigadegeneral Telford Taylor zur Charakteristik der Angeklagten:

Vor einem Jahr wurden hier Männer des Mordes angeklagt. Aber dies ist nicht lediglich ein Mordprozess.

Diese Angeklagten töteten weder aus einem Impuls heraus noch um sich zu bereichern. Es sind keine ungebildeten Männer. Die meisten von ihnen sind ausgebildete Ärzte. Und einige sind angesehene Wissenschaftler.

Es ist unsere Aufgabe, unbezweifelbar aufzuzeigen, welche Ideen und Motive diese Angeklagten dazu brachten, ihre Mitmenschen geringer zu achten als Tiere.“

Es war nicht das, was man einen Beweggrund nennen kann, was meinen Vater tun ließ, was er im sogenannten „Dritten Reich“ tat, sondern es war die Ideologie, die ihn unmenschlich handeln ließ.

Wie kann ich mich als sein Sohn davor schützen, wenn es doch nichtbewusst und nichtsichtbar ist? Allein, indem ich ihn verstehe, kann ich mir bewusst machen, was ich von ihm übernommen habe. Nur so kann ich ähnliche Verhaltensmuster bei mir selbst erkennen und nur so komme ich in die Lage, meine eigenen impliziten Verhaltensmuster an seinem Verhalten in der Reflexion erkennbar , also explizit zu machen.

Die meisten Ärzte hatten vorher nicht getötet, erst in der Nazi-Zeit erfolgte ihre Sozialisation zum Bösen“, sagt Robert Ray Lifton. Von der Tochter eines NS-Arztes wurde er gefragt, ob er glaube, dass ein guter Mensch böse Dinge tun könne. „Ich denke schon“, antwortete Lifton, „aber dann ist er kein guter Mensch mehr.

Lifton vermutet, dass die meisten Mediziner auf ihre Profession vertrauten. „Doch Arzt sein ist nicht genug. Das ist ein vergebliches Hoffen auf einen ethischen Schutzmantel durch den Beruf“, sagt Lifton. „Der logische Schritt – Ärzte sind Heiler, wir sind Ärzte, also sind wir auch Heiler – stimmte nicht mehr.

Die „Sozialisation zum Bösen“ zu verstehen, sie nachvollziehen zu können, das ist die Voraussetzung, sich selbst anders verhalten zu können. Wenn ich das nicht reflektiert hätte, dann wäre mir nie in der Deutlichkeit bewusst geworden, wie ich mich als Anwalt von dem Recht und in der Politik von dem, was wir in der SPD für richtig hielten, wie von einem ethischen Schutzmantel geschützt gesehen hätte.

Doch das war ein Irrtum, ein großer Irrtum. Weder das Recht noch die politische Meinung vieler befreit mich von meiner persönlichen Verantwortung für das, was ich tue. Es war nicht so, dass ich etwas Spezifisches wollte, sondern ich spielte meine Kompetenzen und Fähigkeiten so aus, dass es für mich optimal war.

Und genau so war mein Vater auch. Er war eben nicht „böse“, aber seine Taten waren es. Ich bin vor einiger Zeit über den Ch’an-Gedanken gestolpert, dass es Taten, aber keine Täter und Erfahrende, aber keine Erfahrungen gibt. Daran hatte ich lange zu knabbern. Aber wenn ich ein Prozess bin, dann stimmt das.

Deswegen sage ich auch immer, dass mein Vater ein Mörder war. Das sagt etwas über seine Taten, aber es ist keine Bewertung seiner Person. Für Hannah Arendt besteht die Aufgabe darin zu sehen, dass das Böse von ganz normalen Menschen verübt wird, dass da keine Monster oder Teufel am Werk sind. Das macht das Böse so erschreckend, da es wohl in allen angelegt zu sein scheint. Die Frage ist also, wie man es vermeiden kann.

Es war nicht das, was man einen Beweggrund nennen kann, was meinen Vater tun ließ, was er im sogenannten „Dritten Reich“ tat, sondern es war die Ideologie, die ihn unmenschlich handeln ließ.

Diese Männer waren vom Nationalsozialismus vollkommen pervertiert. Deshalb ist es wichtig, in ihnen keine Verrückten zu sehen oder Monstren. Wir müssen uns vielmehr klar machen, dass, wenn eine Ideologie wie die der Nazis sich durchsetzt, die ganze Welt in Gefahr ist. Was in Deutschland passiert ist, kann überall und egal unter welchen Bedingungen eintreten, wenn eine Ideologie um sich zu greifen beginnt.
Yves Ternon

Stanley Milgram wies in seinem Experiment aus dem Jahr 1962 nach, dass drei Viertel der Durchschnittsbevölkerung durch eine pseudowissenschaftliche Autorität dazu gebracht werden können, einen ihnen unbekannten Menschen zu misshandeln.

Etwas ganz Ähnliches oder vielleicht Identisches ist im Nationalsozialismus auch passiert. Vermeintliche Autoritäten haben „ganz normale“ Menschen dazu gebracht, ihnen zu folgen. Solche Personen durch ein Attentat auszuschalten, halte ich für kaum erfolgreich und auch nicht für sinnvoll, denn die Verantwortung bleibt immer bei dem Handelnden selbst.

Wirklich effektiv ist hingegen, das eigene Verhalten, Denken und Tun konsequent und immer wieder zu reflektieren. Es ist also nicht die Gruppe, die einen stark macht, sondern die dialogische Reflexion in der Gruppe.

Aber nicht nur das. Das Verständnis für die zwingende Notwendigkeit einer Kultur des gegenseitigen Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung auch Andersdenkender sowie das konsequente Eintreten für einen solchen Verhaltenskodex sind zwingend erforderlich.

Ganz normale Menschen!

Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Die Tatsache, dass die Menschen, die radikal Denkenden zujubelten, ganz normale Menschen waren, bedeutet ja nicht, dass sie sich nichts Böses und Grausames gedacht und getan hätten. Vielmehr heißt es, dass die Menschen überhaupt verführbar sind. Geht es um die Sicherung eigener Bedürfnisse, schauen sie nicht mehr genau hin.

Dieser Artikel in der Berliner Zeitung macht das deutlich: Hunderte individueller Texte, die offenbaren, was normale Leute an Hitlers Ideen faszinierte. Menschen, die noch nichts wussten von Krieg und Holocaust, Menschen, die einen Ausweg aus den eigenen Lebensumständen suchten und letztlich zu Tätern, Mittätern und Duldern unmenschlicher Grausamkeiten wurden.

Wären diese Menschen ganz einfach von Natur aus böse gewesen, könnte ich leichter damit umgehen. Doch das waren sie offensichtlich nicht. Was es zum einen schwer macht, es zu verstehen und zum anderen deutlich macht, dass es offensichtlich keine wirksame Sperre gegen Gewalt und Grausamkeit in dem Menschen gibt.

Vielmehr muss es vermittelt und gelernt werden, solchem Ansinnen zu widerstehen. Menschlichkeit ist zwar angeboren, jedenfalls ist das meine Überzeugung, doch wirtschaftliche und gesellschaftliche Abhängigkeit kombiniert mit einem unzutreffenden Verständnis von Wirklichkeit bereitet den Boden, auf dem viele Menschen leicht den moralisch-ethischen Halt verlieren.

Es ist notwendig, die Macht der Konvention zu erkennen und ihr zu widerstehen. 

Vererbte Last

In diesem Artikel wird in der taz über den Umgang mit der Täterschaft meines Vaters in unserer Familie berichtet:

Zwei Brüder, ein Vater und die Schuld

Was haben die eigenen Verwandten im Krieg gemacht? Einfache Soldaten oder Verbrecher? Viele deutsche Familien wollen das lieber nicht so genau wissen. Peter Zettel aber hat sich in die Biografie seines Vaters verbissen. Sein Bruder Wolfgang nicht.

Eine Familiengeschichte

TAZ vom 10.10.22, Auszug

Bleibende Erinnerung

Nicht wegen der Vergangenheit, sondern wegen der Zukunft ist es notwendig, sich immer wieder zu erinnern.

Es ist keine Frage, dass das Leben meiner Eltern maßgeblich dafür ist, wie ich mein eigenes Leben gestaltet habe und auch noch gestalte. Ich stehe sozusagen in einer ununterbrochenen (Kultur-) Linie.

Das ich in einer ununterbrochenen Linie stehe, bedeutet nicht, dass mich das ausmachen würde, wenn es auch mein Leben bestimmt, denn es fordert mich immer wieder auf mich zu entscheiden, wie ich auf Situationen reagiere. Die Geschichte meiner Eltern war (sie sind beide gestorben, was es für mich erst einmal leichter machte, damit umzugehen) und ist die Hintergrundschwingung in meinem Leben, eine Schwingung, die immer da ist, die ich nicht loswerden kann und vor allem nicht leugnen darf.

Mein Vater war einer der Ärzte, die im Dritten Reich Menschenversuche maßgeblich organisiert und durchgeführt haben – und meine Mutter hat ihn dabei emotional unterstützt, wobei sie möglicherweise oder sogar wahrscheinlich mit ihren Ansprüchen die treibende Kraft in der Beziehung war. Das definiert mich nicht, doch es ist die Grundlage meiner Entscheidungen. Diese Schwingung bestimmt ganz maßgeblich meine Entscheidungen, nicht nur die der Vergangenheit, sondern auch die zukünftigen.

Ob ich (wie früher) immer Recht zu haben glaubte oder mich (immer seltener) im Recht fühle und ohne Bewertung wahrnehme, was ist, das geschieht beides vor diesem Hintergrund – aber es legt mich nicht fest. Wobei ich nicht bestreiten will, dass die „harte“ Variante mir oft noch leichter fällt als die „weiche“. Es ist wohl eine bleibende Notwendigkeit, mir dieser Kultur bewusst zu sein. Jedenfalls sehe ich es so.

Das setzt voraus, dass ich sehr, sehr achtsam durch das Leben gehe; denn bin ich unachtsam, kann die Hintergrundschwingung meine Entscheidungen stärkerer beeinflussen und tut es dann wohl auch.

Es liegt also an mir, wie ich mit den Gegebenheiten umgehe. Entweder, ich verdränge sie und lasse zu, dass sie mich wesentlich bestimmen, oder aber ich sehe, was war und entscheide mich bewusst immer wieder für das, was angemessen ist – vor dem Hintergrund dessen, was sie getan haben und was die Kultur ausmacht, in der ich aufgewachsen bin.

Meine Vergangenheit werde ich nie los. Doch ich kann sie verleugnen oder annehmen und daraus die stimmigen Konsequenzen ziehen – und mein Leben anders gestalten.