Dieser Text entstand aus einer spontanen Korrespondenz zwischen Pogany-Wnendt, dem Vorsitzenden des PAKH in Köln und mir und mir anlässlich des unten stehenden Gedichts (von ihm), das er im Andenken an seinen von den Nazis ermordeten Großeltern geschrieben hat.

Wie gerne hätte ich euch gekannt.

Sie haben mir euch genommen,
Diese Mörder,
Schon bevor ich euch hatte.
WARUM?

Wart ihr nicht Menschen,
Aus Fleisch und Blut,
Menschen,
Wie eure Henker auch?

Wie gerne hätte ich euch gekannt,
Eure lachenden Gesichter,
Eure Leidenschaft und eure Sehnsüchte,
Euren Zorn und eure Liebe.

Ihr habt mir gefehlt,
In meiner Kindheit.
Wie andere Kinder hätte ich mir gewünscht,
Von euch verwöhnt zu werden.

Doch, sie haben mir euch genommen,
Die selbst ernannten „Herrenmenschen“,
Schon bevor ich euch hatte.
WARUM?

Großvater (Miklós),
Du warst Arzt.
Die Treue zu deinen Patienten
Hat dich das Leben gekostet.

Großmutter (Erzsébet),
Du warst Pianistin.
Deine Musik,
Wie gerne hätte ich sie gehört.

Doch, sie haben mir euch genommen,
Diese Mörder,
Schon bevor ich euch hatte.
WARUM?

Wart ihr nicht Menschen,
Aus Fleisch und Blut,
Menschen,
Wie eure Henker auch?

(Peter Pogany-Wnendt)

Lieber Peter (Pogany-Wnendt),

es ist mir ein Bedürfnis, Dir auf Deinen Text „Wie gerne hätte ich euch gekannt“ zu schreiben.

Mein Vater war einer der Mörder, von denen Du schreibst. Ja, und auch er war ein Mensch. Das ist das Furchtbare, Erschreckende, das Grausame und schwer zu Verstehende, dass Menschen in der Lage sind, anderen Menschen das anzutun, was sie getan haben, sie zu quälen und zu ermorden.

Doch ich darf mich nicht hinter „es ist nicht zu verstehen“ verstecken, ich muss es wirklich verstehen wollen, will ich verhindern, dass es sich auch durch mich wiederholt. Nur durch das Verstehen kann ich etwas ändern, sonst nicht.

Ich muss mich zu dem bekennen, was mein Vater getan hat, darf es nicht leugnen und nicht verharmlosen oder gar rechtfertigen. Das gebietet mir dir Respekt vor Dir und Deinen Vorfahren und Eurem Leid, das Euch Menschen wie mein Vater angetan haben.

Ich trage keine Schuld und keine Verantwortung an dem, was Euch geschah. Aber ich trage mit Verantwortung dafür, dass es nicht wieder geschieht und ich mache mich schuldig, wenn ich nicht tue, was mir möglich ist zu tun.

Daher will ich das, was mein Vater getan hat, nicht zudecken, sondern mache es öffentlich und setze mich bewusst mit dem Erbe auseinander, das er mir hinterlassen hat.

Liebe Grüße!
Peter

Lieber Peter (Zettel),

vielen Dank für deine Mail und für deine einfühlsamen Worte. 

Ja, ich stimme dir zu, dass es schwer zu begreifen ist, dass Menschen anderen Menschen so viel Leid antun konnten und leider, wie wir auch gegenwärtig erleben, weiterhin antun können. Und noch schwerer ist es zu bergeifen, wenn es sich um den eigenen Vater handelt.

Primo Levi sagte, dass er sich schäme, weil es Menschen waren, die den Holocaust verübt haben. Wie du irgendwo auf deine Homepage schreibst, fingen die meisten ganz klein an, mit einer kleinen Verdrehung ihrer Denkweise und Wertevorstellungen. Und sie verfingen sich immer tiefer in eine Dynamik durch die sie Schritt für Schritt ihre Menschlichkeit aufgaben.

Ich bin auf unser Gespräch morgen sehr gespannt. (Ein Gespräch in PAKH über den Eingangstext.) Wir müssen alle mit unseren jeweiligen schwierigen Gefühlserbschaften zurecht kommen. Obwohl wir uns nichts abnehmen können, denke ich, dass wir uns gegenseitig helfen können, indem wir unsere Herzen füreinander öffnen. Das hast du mir gegenüber mit deiner Mail getan.

Herzliche Grüße und bis morgen

Lieber Peter (Zettel),

du warst gestern sehr still und hast kaum etwas gesagt. Ich habe mich gefragt, wie es dir ging. 

Herzliche Grüße
Peter

Lieber Peter (Pogany-Wnendt),

das Gespräch gestern hat mich frustriert zurückgelassen. Zum einen ist es kein Dialog, sondern eine Diskussion und Erörterung. Doch wie will ich Deine Gedanken erörtern? Ich kann immer nur sagen, was ich empfinde, aber nicht was Du empfandest. Ich kann nun einmal nicht in Deinen Kopf. Und ich weiß nicht, ob Du in meinen wolltest.

Aber wir könnten uns über die Grenzen des Erlebten hinweg die Hand reichen, Du hast ja eine Andeutung in diese Richtung gemacht, Brücken der Menschlichkeit bauen. Doch das darf keine Interpretation Deiner Gedanken sein, sondern nur deren Kenntnisnahme. Deine und auch meine Gedanken, das sind die Brückenpfeiler.

Wenn Du etwas sagst, dann kann ich darauf einen weiterführenden Gedanken finden. Einen haben wir beide bei meiner Familie gefunden, den naturalistischen Fehlschluss; ein anderer war die Sehnsucht des Kindes. Da stand und steht das Bild aus Strutthof wie eine Mauer zwischen mir und meinen Eltern, die ich zwar hatte, die aber unerreichbar waren – bis in ihren Tod. Begegnet bin ich erst meinen toten Eltern in einer Aufstellung, da waren sie ganz anders, eben tot, haben sich nicht mehr versteckt und ihre Taten nicht mehr zu verbergen gesucht.

Wie würden die Toten einander begegnen? Unversöhnlich? Vielleicht ist es das Bild und das Erleben dieser Begegnung der Toten, das ich mir ersehne und erhoffe, darin eine Antwort ersehne, einen Hinweis für mich, der ihr Erbe – nicht ihre Schuld – zu tragen hat. Keine Vergebung und auch kein Verzeihen, ich denke das geht nicht. Im Grunde stehen Du und auch ich uns an ihrer statt uns gegenüber.

Das, was ich von dieser Position oder auch Stelle als Sohn meiner Eltern sagen möchte entzieht sich den Worten, aber Du hast es in Deinem Beitrag angedeutet, ich kann mich nur nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern.

Ganz tief unter dem Alltäglichen gibt es eine tiefe Verbundenheit zwischen allem Sein, was Morihei Ueshiba erkannt und auch ausgedrückt hat. Wie schreibt er doch: Die ganze Schöpfung, alles Mitglieder einer Familie. Mich erinnert das an meinen Bruder, mit dem ich 60 Jahre lang im Zwist gelebt habe und mit dem ich mich mittlerweile sehr gut verstehe. Ich versuche einfach, ihn nicht mehr zu bewerten.

Es ist dieses Sich-Gegenseitig-Bewerten, das verhindert, dass wir zueinander finden. Doch dazu müssen wir die Gräben zwischen uns überbrücken. Es genügt auf meiner Seite des Ufers nicht zu sagen, es tut mir unsagbar leid. Eigentlich kann ich gar nichts sagen, nur dass ich alles tun werde, um anders als meine Eltern zu denken, in der Hoffnung, dass ich niemals mehr Fakten und Werte vertausche.

Ist es mein Erbe, wirklich zu verstehen, was war, ohne einverstanden zu sein? Ich denke das ist so, denn das zeigt mir den Weg in die Zukunft. Doch dafür brauch ich den Kritiker, der meine Gedanken in seinem Denken verifiziert. Gilt es den gemeinsamen Gedanken der Mitmenschlichkeit denken zu lernen, wie Morihei Ueshiba?

Gestern hat ein Freund in einem Gespräch eine interessanten Gedanken eingebracht: Bei ihm wird in der Familie nicht mehr über Gerechtigkeit, sondern nur noch über Angemessenheit gesprochen. Wie kann ich über meine Eltern reden, ohne das Wort Schuld zu gebrauchen? Das hat mich gestern zum Schwiegen gebracht, der richtige Begriff wollte einfach nicht auftauchen und er verbirgt sich noch immer.

Auch wenn mich das Gespräch gestern frustriert hat wünsche ich mir sehr, dass wir in Kontakt blieben, den Gedankenfaden weiter spinnen und daraus eine Brücke weben würden.

Liebe Grüße!
Peter

Lieber Peter (Zettel),

ich denke, dass es in erster Linie am online-Format liegt, dass kaum ein echter Dialog in der Textwerkstatt (wie in anderen online-Gruppen) aufkommen kann. Die Treffen in Präsenz verlaufen anders. Das ist etwas, was ich auch vermisse, aber der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass wir uns online treffen und Leute teilnehmen können, die sonst nicht teilnehmen könnten.

Ich stimme dir zu, dass niemand meine Gedanken erörtern kann, denn ich habe das Gedicht aus meinem eigenen Empfinden heraus geschrieben und das wiederum hängt mit meiner Geschichte zusammen, die natürlich einmalig ist, auch wenn sie parallelen hat, wie z.B. mit der Katas, oder Berührungspunte, wie mit deiner Geschichte oder der Geschichte anderer.

Aus der Perspektive unserer PAKH-Arbeit geht es in erster Linie darum, uns gegenseitig mit unseren Geschichte berühren zu können. Und wie ich am Ende der Textwerkstatt sagte, bei jedem Einzelnen werden andere Gedanken und Gefühle angestoßen, die jeweils ihre Berechtigung haben. Auf diese Weise können wir uns „über die Grenzen des Erlebten hinweg die Hand reichen“ und „Brücken der Menschlichkeit“ bauen, wie du schreibst. Das ist für mich das Entscheidende, denn die Nazis haben die menschliche Bindungen zwischen unseren Eltern und Großeltern zerstört. Wir können sie wieder herstellen.

Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob und wie mein Vater, dessen Eltern ermordet wurden, die Eltern oder Großeltern meiner Freunde in PAKH, die sich zu Tätern machten, begegnet hätte. Wie dein Vater war mein Vater auch Arzt. Was wäre gewesen, wenn sie durch Zufall nach dem Krieg zusammen gearbeitet hätten? Ich vermute, dass mein Vater den Kontakt geweigert hätte. Es wäre ihm nicht möglich gewesen mit ehemaligen Tätern zu sprechen. Desto wichtiger ist es, dass wir, die Nachkommen, es tun.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Vater sich mit den Mördern seiner Eltern (wenn auch nicht die unmittelbaren) sich hätte versöhnen können. Dazu wäre, wenn überhaupt, vorher Einsicht und Reue auf Seiten der Täter notwendig gewesen. Aber selbst dann, weiß ich nicht, ob mein Vater verziehen hätte. Und zwischen uns kann es keine Versöhnung geben, weil wir uns nichts angetan haben. Wir können uns nicht für unsere Eltern stellvertretend versöhnen. Aber wir können Verantwortung übernehmen, wie du und ich und andere durch die Arbeit in PAKH es tun, indem wir uns der schmerzlichen Geschichte und unseren Gefühlserbschaften stellen.

Leider war es auch mir nicht möglich, mich in vielen Punkten direkt mit meinen Eltern auseinanderzusetzen. Als ich zum Mitbegründer des PAKH wurde, war mein Vater schon tot. Ich hätte meinen Vater noch viele Fragen stellen wollen. Und ich hätte gerne gehabt, dass er mein Gedicht liest, was er dabei empfindet. Es handelt sich schließlich um seine Eltern. Das wichtige an dem Gedicht ist, dass es meine Trauer zum Ausdruck bringt und nicht die meines Vaters, wie ich als Kind immer versucht habe: Seine Trauer zu erledigen.

Ich stimme dir zu, dass es ein Gefühl der Verbundenheit zwischen allen Menschen gibt. Im Christentum nennt man es Nächstenliebe, in Afrika Ubuntu. Seltsamerweise empfinde ich auch Trauer um die Täter, über das, was sie sich selbst angetan haben.

Ja, wir sollten in Kontakt bleiben und weiter Brücken der Menschlichkeit bauen. Dafür sind wir in PAKH.

Herzliche Grüße
Peter

Lieber Peter (Pogany-Wnendt),

danke für Deine Mail. Etwas darin hat mich stark berührt, dem muss ich noch nachgehen. Daher will ich am Ende anfangen.

Du schreibst:

Das Wichtige an dem Gedicht ist, dass es meine Trauer zum Ausdruck bringt und nicht die meines Vaters, wie ich als Kind immer versucht habe: Seine Trauer zu erledigen.

Das hat mich an meine erste Aufstellung erinnert, in der sich gezeigt hat, dass ich die Schuld meines Vaters für ihn tragen wollte. Oder zu tragen suchte.

Ist das die gemeinsame Brücke, auf der wir uns begegnen können? Dass wir das, was den Eltern gehört, auch bei ihnen lassen und wirklich eigenständig werden?

In mir entsteht gerade das Bild, wie ich meinem Vater gegenüber stehe und ihm sage, dass ich ganz anders denke als er, die Welt ganz anders verstehe und damit auch anders erlebe als er. Die Frage aber ist, ob mir die Opfer das glauben! Ob die mir sagen, ja, du stehst nicht mehr in seinem Schatten. Denn nur sie können den Unterscheid sehen.

Liebe Grüße!
Peter

Lieber Peter (Zettel),

ja, genauso wie du es schreibst meine ich es auch. 

Unsere Eltern haben uns mit den Gefühlsbotschaften unbewusste Aufträge erteilt: Den Schmerz zu verarbeiten, das Leid zu lindern oder gar das Erlittene zu rächen auf Seiten der Opfer; auf der Seite der Täter bekamen die Nachkommen den Auftrag die Schuld zu sühnen oder zu entschuldigen oder gar die Ideologie insgeheim weiterzuführen.

Alle diese Aufträge sind natürlich nicht erfüllbar, belasten uns aber als Nachkommen und wirken sich auch teilweise destruktiv, wenn wir versuchen sie zu erfüllen. Daher denke ich, dass wir uns davon befreien können, indem wir sie „zurückgeben“. Dann können wir unabhängig werden und die Welt, wie du schreibst, durch unsere eigenen Augen sehen und verstehen und nicht mehr durch die unbewussten Aufträgen.

Ich habe mich von diesen Aufträgen dadurch zu einem großen Teil lösen, d.h. trauern können, als ich in Budapest die Stolpersteine für meine ermordeten Großeltern habe verlegen lassen. Seit dem habe ich deutlich weniger das Gefühl den Schmerz meines Vaters tragen zu müssen. Ich hätte ihm den Schmerz sowieso niemals abnehmen können, weil er die Verbindung zu seinem ermordeten Eltern herstellte. Aber als Kind wollte ich ihn vom Schmerz befreien, indem ich ihn auf mich nahm. Eine kindliche Illusion.

Das Entsprechende gibt es auf der anderen Seite mit der Schuld. Du bist für die Schuld deines Vaters nicht verantwortlich, kannst sie auch nicht wiedergutmachen, sühnen oder sonst was damit machen. Also ist es gut, wenn du sie bei deinem Vater lassen kannst und nicht versuchst ihn dadurch zu entlasten, dass du sie weiter auf dich nimmst. Das schließt nicht aus, dass du dich der Verantwortung als Nachkomme stellst, indem du seine Schuld nicht leugnest. Und ich verstehe, dass es schmerzlich ist, einen Vater zu haben, der sich mit einer solchen Schuld beladen hat und dem man zugleich liebt.

Das ist die gemeinsame menschliche Brücke.

Herzliche Grüße
Peter